Service Letzte Änderung: 05.01.2023 14:13 Uhr Lesezeit: 4 Minuten

Interview: „Für eine echte Verhaltensänderung reicht der gute Vorsatz allein nicht aus.“

Neues Jahr, alte Vorsätze. Viele Menschen nehmen sich für das neue Jahr eine Veränderung ihres Lebensstils vor, sei es, um selbst gesünder zu leben oder zum Beispiel durch vegetarische oder vegane Ernährung einen Teil zum Umweltschutz beizutragen – und oft sind es Jahr für Jahr die gleichen Vorsätze. Doch warum ist das neue Jahr als Startpunkt so beliebt? Wie kann man seine Ziele erreichen?

 

Martin Zange arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut in Krefeld und engagiert sich in der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein. Der Experte erklärt, warum wir gute Vorsätze oft wieder über Bord werfen – und was dagegen hilft.

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© privat
Martin Zange, Psychologischer Psychotherapeut in Krefeld

Warum nehmen sich die Menschen ausgerechnet zum neuen Jahr etwas vor?

Zange: Der Jahreswechsel ist ein Anlass für einen Rückblick und einen Ausblick. Viele Menschen haben einige Tage Zeit zu betrachten, was gut und was schlecht gelaufen ist. Dabei fallen uns schnell die unerledigten Themen wieder ein wie Rauchen, Gewichtsprobleme, schlechte Angewohnheiten oder auch zu wenig Zeit für Familie und Freunde. Psychologisch gesehen wirkt der Jahreswechsel wie ein Neuanfang, an dem viele Menschen hoffen, diese offenen Aufgaben mit neuem Schwung angehen zu können.     

Und warum scheitern die Menschen so häufig daran?

Zange: Es gibt ein treffendes Sprichwort zu guten Vorsätzen: „Gute Vorsätze sind wie Pferde, die häufig gesattelt, aber selten geritten werden“. Für eine echte Verhaltensänderung reicht in der Regel der Vorsatz allein nicht aus. Sonst hätten wir es im vergangenen Jahr ja schon lange erledigt! Unser Verhalten beruht auf der Summe unterschiedlicher Motive und Gewohnheiten. Natürlich haben wir zum Jahreswechsel ein Motiv, endlich etwas Bestimmtes zu erreichen, aber wir haben auch fest etablierte Gewohnheiten und Motive, die dem Ziel entgegenstehen. Ein Beispiel: Ich will mehr Sport treiben, um fitter zu sein und abzunehmen. Die Motive, die dem entgegenstehen könnten: Ich schaue lieber Serien zur Entspannung an. Da ich nicht frieren will, fahre ich Anfang des Jahres doch nicht Fahrrad. Ich habe Angst, mich als Anfänger im Fitnessstudio zu blamieren und fange deswegen gar nicht erst an. Ich vergleiche mich mit Sportskanonen und gebe gleich wieder auf, weil ich sowieso nie so fit werde wie sie. Jeder hat gleichzeitig mehrere Motive, die sich zum Teil widersprechen und letztlich seine eigenen Gründe, etwas doch nicht so umzusetzen wie geplant.

„Ich will mehr Sport treiben“ ist sehr allgemein formuliert. Wie wichtig sind konkrete Ziele?

Zange: Je größer, abstrakter und langfristiger das Ziel ist, umso schwerer wird es, dieses Ziel zu erreichen. Deshalb sollten Ziele möglichst präzise und in kleinen Schritten formuliert sein. In Bezug auf den Sport könnte das Ziel lauten: „Ich trainiere montags und mittwochs. Im Juni nehme ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen am Firmenlauf teil.“ Außerdem sollten die Ziele positiv formuliert sein. „Ich verzichte auf Zigaretten“ ist negativ formuliert und suggeriert Verzicht. „Durch den Rauchstopp habe ich Geld übrig für einen Kurztrip in die Berge. Außerdem bin ich fitter und kann dann wieder meine lange Lieblingsstrecke wandern gehen“ klingt dagegen nach einem attraktiven Ziel, für das sich die Anstrengung lohnt.

Warum klappt es oft trotzdem nicht?

Zange: Wir scheiten häufig, weil wir die ungünstige Gewohnheit – oder gar die Sucht mit der wir es zu tun haben – unterschätzen. Der Schwung des neuen Jahres hält dann nur für eine kurze Zeit und die alten Mechanismen bremsen uns wieder aus. Es braucht vor allem vier Dinge: 1. Die Klärung, ob das Motiv oder Bedürfnis für mich tatsächlich so wichtig ist 2. Wissen, was das genaue Problem ist 3. Einen klaren Plan, was zu tun ist, der immer wieder überprüft und angepasst werden kann. 4. Die Bereitschaft, schwierige Momente zu überstehen. Viele gute Vorsätze scheitern daran, dass wir gar nicht bereit sind so viel Energie, Zeit und Leidensfähigkeit in die Veränderung zu stecken, weil wir uns gar nicht ausreichend mit dem Ziel identifizieren. 

Klappt das besser unter Druck?

Zange: In der Psychotherapie ist ein Kriterium für eine gute Prognose tatsächlich der sogenannte Leidensdruck, den ein Problem erzeugt. Je höher der Leidensdruck, desto eher sind wir bereit, fest etablierte Gewohnheiten aufzugeben. Eine konkrete Diagnose, zum Beispiel Diabetes, kann den Leidensdruck erhöhen. Viele schaffen es aber trotzdem nicht, Gewohnheiten zu ändern. Das gilt vor allem für suchthaftes Verhalten. Hier ist es besonders wichtig, Alternativen zur aktiven Stressreduktion zu finden. Bei schwerwiegenden Problemen ist es oft notwendig, sich in eine entsprechende Behandlung oder Beratung zu begeben, um die Erfolgswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Oft helfen auch positive Modelle, die es bereits geschafft haben. So werden viele Selbsthilfegruppen von Betroffenen geleitet, die das Problem inzwischen besser bewältigen können. Auch soziale Unterstützung und Rücksichtnahme durch das Umfeld wirken sich oft günstig aus. Dabei ist aber sehr wichtig, dass die wesentliche Motivation von der betroffenen Person selbst ausgehen sollte, um eine nachhaltige Veränderung erreichen zu können. Allgemein schaffen Menschen in der Gemeinschaft vieles leichter. Solidarität und Freude in der Gruppe können über manches Motivationstief hinweg helfen. Manchmal muss aber auch sprichwörtlich „die Zeit reif sein“. Für viele Probleme gibt es günstige Momente für eine Veränderung – und das ist in den seltensten Fällen ausgerechnet Neujahr.

Woran merke ich den Unterschied zwischen „schlechter Angewohnheit“ und„Sucht“, die therapiert werden sollte?

Zange: Ein wichtiges Kriterium ist hier, wie sehr die Person oder auch das Umfeld unter der Situation oder den Folgen des Verhaltens leidet beziehungsweise wie schädlich es ist. Gerade bei Sucht ist zudem die Frage des Kontrollverlustes wichtig, also ob ich selbst mein Verhalten noch bewusst steuern kann. Wenn es mir wirklich schlecht geht, ich die Veränderung aber trotzdem nicht alleine schaffe, dann sollte ich mir angemessene Hilfe suchen. Diese kann individuell, je nach Schwere des Problems, sehr unterschiedlich ausfallen: Für manche ist eine Selbsthilfegruppe sinnvoll, anderen reicht der Austausch in einem Internetforum. Für viele Herausforderungen gibt es auch Beratungsstellen, die einem zur Seite stehen. Bei schwerwiegenden Problemen sollte in jedem Fall durch einen Arzt oder Psychotherapeuten geklärt werden, ob eine Erkrankung vorliegt. Hier ist zunächst die Hausärztin oder der Hausarzt eine gute Ansprechperson. Mit ihr oder ihm gemeinsam kann man überlegen und abwägen, welche Maßnahmen benötigt werden. In der Psychotherapie-Praxis klären wir in der Psychotherapeutischen Sprechstunde zuerst, ob wirklich eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung vorliegt, oder falls dies nicht der Fall ist es vielleicht auch andere niederschwellige Angebote gibt, die gut helfen können.

Welche Techniken gibt es, am Ball zu bleiben?

Zange: Es gibt einige Tipps und Tricks, die ich nochmal separat mit konkreten Beispielen zusammengefasst habe.                 

Was ist, wenn man es doch nicht schafft? Wie kann man damit umgehen, ohne sich selbst Vorwürfe zu machen?

Zange: Aus psychotherapeutischer Sicht ist ein wesentliches Ziel Menschen zu unterstützen, sich selbst positiv, freundlich und offen zu reflektieren, das Mögliche zu verändern und das nicht Veränderbare zu akzeptieren und einen möglichst konstruktiven Umgang damit zu finden. Viele nehmen sich zu viel vor und können die erreichten Teilziele nicht ausreichend würdigen. Das macht es umso schwerer das Mögliche im Blick zu behalten. Selbstvorwürfe sind als Reaktion nicht unwahrscheinlich. Sie sollten jedoch ein vorübergehender Zustand sein, der entweder dazu motiviert, es mit einer besseren Strategie noch einmal zu versuchen oder aber auch die vermeintliche Unzulänglichkeit als Teil des eigenen Mensch-Seins zu akzeptieren. Manchmal müssen wir auch eingestehen, dass die Kosten für die Veränderung so hoch sind, dass wir sie nicht zahlen können oder wollen. Unsere Gesellschaft tendiert dazu, alles für machbar zu erklären und den einzelnen Menschen dadurch zu überfordern. Das Scheitern des Einzelnen als persönliche Schwäche auszulegen, ist eine sehr einseitige Sichtweise. Mit Verhaltensveränderungen, die besser an die eigenen Bedürfnisse und Möglichkeiten angepasst sind, kann man deutlich gesünder Leben und dadurch für sich einen Gewinn an Lebensqualität erreichen. Die „Machbarkeit des Lebens“ bleibt letztlich begrenzt und für viele ist es eine wirkliche Befreiung, sich auch mit den eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten zu mögen und zu akzeptieren.

Haben Sie sich für 2023 etwas vorgenommen?

Zange: Tatsächlich habe ich mir vorgenommen, mir mehr Zeit für Freizeitaktivitäten zu nehmen. Da auch bei mir immer wieder die Herausforderungen des Alltags dazwischenkommen, bin ich gespannt, wie viel davon ich umsetzen werde.

Thema des Monats: Gute Vorsätze

In den USA hat sich zum 17. Januar der „Wirf-deine-guten-Vorsätze-über-Bord-Tag“ etabliert. Habe ich mir vielleicht zu viel vorgenommen? Oder keine konkreten Pläne geschmiedet? Wie gehe ich mit Rückschlägen um? Draum geht's bei uns im Januar 2023.