KVNO aktuell Letzte Änderung: 04.12.2024 16:06 Uhr Lesezeit: 2 Minuten

KOSA-Online-Talk: Trend-Diagnose ADHS?

ADHS – die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ist derzeit in aller Munde.

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Was hat es mit der steigenden Zahl an Diagnosen auf sich? Wie verändert sich diese über die Lebensspanne? Darüber diskutierten Expertinnen und Betroffene im KOSA-Online-Talk „ADHS — wächst sich das aus?“ der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein am 20. November 2024. Gut 300 Interessierte nahmen an der Veranstaltung teil, was den Stellenwert der Thematik unterstreicht.

Erhöhte Ablenkbarkeit, starker Bewegungsdrang, vermehrte Impulsivität: „Mit ADHS zu leben, bedeutet Stress und enorme Herausforderungen — rund um die Uhr und in allen Lebensbereichen. Für Familien mit betroffenen Kindern wird der Umgang mit der Thematik oft zur Belastungsprobe“, erklärt Dr. med. Marion Paland-Huckemann. Doch das Wissen um die neurologische Störung wachse und mit ihm eröffneten sich immer mehr Wege, mit den Symptomen umzugehen und Leben zu lernen, so die Kinder- und Jugendärztin.

Doch was steckt eigentlich hinter ADHS? Zunächst handelt es sich um eine Dysfunktion des Stirnhirns, die zu einer verminderten Dopamin-Ausschüttung und den ADHS-typischen Symptomen führt: kurze Konzentrationsspanne und Hyperaktivität. „Betroffene können sich nicht gut steuern, handeln unüberlegt und besitzen eine geringe Frustrationstoleranz“, beschreibt Paland-Huckemann die Herausforderungen. ADHS hat eine sehr hohe Prävalenz: Sie liegt zwischen vier bis acht Prozent bundesweit bei Kindern und Jugendlichen sowie schätzungsweise bei drei Prozent im Erwachsenenalter. Kinder weisen zudem in 60 bis 70 Prozent der Fälle typische Begleiterkrankungen auf: Symptome motorischer Art, solche die Sprach- oder Lernentwicklung betreffend, aber auch psychische Auffälligkeiten wie Ängste, gestörtes Schlaf- oder Sozialverhalten sind möglich. Laut der Medizinerin entwickeln sich die komorbiden Störungen während der Adoleszenz besonders stark.

Wächst sich ADHS mit zunehmendem Alter aus? Das ist in der Regel nicht der Fall. In drei Viertel der Fälle bleibt die Diagnose ein Leben lang bestehen. „Aber Betroffene mit geringerer Ausprägung finden häufig Bewältigungsstrategien für ihre Beschwerden, sodass die Symptome weniger als Belastung wahrgenommen werden“, sagt Gudrun Hoika-Messing-Flöter, Ärztin und Psychologische Psychotherapeutin aus Köln. Mittlerweile gibt es immer mehr Menschen, die erst im Erwachsenenalter eine Diagnose erhalten. Hoika-Messing-Flöter behandelt auch sehr viele junge Erwachsene, die ins Berufsleben starten wollen. „Sie kommen hauptsächlich über Selbsttests in den sozialen Medien und im Internet in die Praxis“, erklärt sie. Erwiesen sei: Jungen externalisierten ihre Auffälligkeit und fielen damit schneller auf. Mädchen und Frauen kompensierten besser, ihre Symptome zeigten sich weniger stark. Daher würden sie laut der Psychotherapeutin oft erst in höherem Alter diagnostiziert.

Zur Diagnostik dienen unter anderem die Grundschulzeugnisse. „Es ist entscheidend, ob die Symptomatik im Lebensweg durchgehend vorhanden gewesen ist. Denn eine Konzentrationsschwäche oder Reizüberflutung kann auch durch äußere Umstände wie Überforderung in unserer schnelllebigen Welt ausgelöst werden. Nicht alles, was wie eine ADHS aussieht, ist auch ADHS“, ordnet Marion Paland-Huckemann das Störungsbild ein. Laut der Leitlinie ADHS muss keine komplizierte, aber am Anfang zeitintensive Abklärung erfolgen. Bei Kindern brauche es laut der Kinderärztin eine biografische Familienanamnese, denn die Störung sei genetisch veranlagt. Oft sind Eltern und andere Familienmitglieder betroffen. Dazu kommt eine Fragebogendiagnostik in Kita oder Schule. Bei Verdacht auf ADHS sollten Eltern sich zunächst vertrauensvoll an ihren Kinderarzt beziehungsweise ihre Kinderärztin wenden.

Keine Angst vor Medikation

Vorbehalte bezüglich einer medikamentösen Einstellung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS gibt es nach wie vor. Die Pädiaterin Paland-Huckemann kann die Sorge nehmen und verweist auf die großen Chancen, die sie insbesondere Minderjährigen bietet: Studien belegten eindeutig, dass die Wirkstoffe zu einer verbesserten Dopamin-Ausschüttung im Gehirn führten, was sich positiv in der Konzentrationsfähigkeit und einer verminderten Impulsivität widerspiegelte. „Die Medikamente sind gut erforscht und haben wenige, gut beherrschbare Nebenwirkungen“, sagt sie. Oft hält sich noch der Gedanke, die ADHS-Medikamente würden ruhigstellen. Das sei falsch. „Einer meiner Patienten formulierte, dass er mithilfe der Tabletten klarer denken könne“, beschreibt Paland-Huckemann. Die Medikamente wirkten sich auch positiv auf das Verhalten und Selbstwertgefühl der Kinder aus. Sie würden helfen, dass sie sich altersentsprechend und ihren Fähigkeiten gemäß entwickelten, ihr ganzes Potenzial ausschöpfen könnten. „Wenn wir von einer schweren Betroffenheit reden, wird ADHS zum Teil unterschätzt. Hier ist eine medikamentöse Therapie unbedingt erforderlich“, betont die Kinderärztin.

Familie in den Blick nehmen

Karin Pick-Knudsen engagiert sich seit 25 Jahren im Selbsthilfeverband ADHS Deutschland e. V. Bei ihren Söhnen wurde ADHS diagnostiziert, ebenso bei ihr selbst, allerdings erst spät, im Alter von 55 Jahren. Pick-Knudsen ist überzeugt: „Wir müssen Eltern noch stärker in den Fokus rücken und ihnen beibringen, welche Strategien und Vorgehensweisen im Umgang mit ADHS helfen, um für Entlastung zu sorgen.“ Selbsthilfegruppen spielen für sie dabei eine zentrale Rolle, um sich auszutauschen und gegenseitig auffangen zu können — ohne Schuldgefühle. Ihr Verband bietet auch eine bundesweite Telefonberatung an.

Bei allen Herausforderungen, die ein Alltag mit ADHS mit sich bringt, ist es auch wichtig, immer wieder die positiven Seiten der Störung zu sehen: Betroffene sind oft sehr kreativ, einfallsreich und nicht schnell unterzukriegen. Die neurologischen Unterschiede zwischen einem ADHS- und einem neurotypischen Gehirn könnten auch weniger als Störung denn als Teil der menschlichen Vielfalt betrachtet werden. „Dennoch darf die dunkle Seite des ADHS nicht unterschätzt werden, die für Patientinnen und Patienten durchaus bedrohlich ist“, mahnt Marion Paland-Huckemann. Die geringere Impulskontrolle zeige sich etwa in Form vermehrter Unfälle oder Verwicklung in Schlägereien. Das Risiko von Substanzmissbrauch ist bei ADHS-Betroffenen um das Drei- bis Neunfache erhöht, die Sterblichkeit um das Fünffache.

Abschließend fragt Moderatorin Stephanie Theiß, Leiterin der KOSA, die Runde, was sie den Zuschauenden abschließend mit auf den Weg geben möchten: Neben psychotherapeutischen Maßnahmen gilt es, Pausen in den Kalender einzutragen! Bei Hausaufgaben öfter einmal um den Block gehen. „Sport treiben, gern Ausdauersport — das kann fast so wirksam sein wie die medikamentöse Behandlung“, so Kinderärztin Paland-Huckemann. Wichtig sind auch Psychoedukation und der Austausch in der Selbsthilfe. „Kleine Schritte machen und selbstfürsorglich sein“, empfiehlt Psychotherapeutin Hoika-Messing-Flöter. Was für wen wie funktioniert, muss jedoch immer individuell herausgefunden und angepasst werden, sind sich die Expertinnen einig.

  • Bianca Wolter

Kontakt

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Bianca Wolter

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