Service Letzte Änderung: 11.08.2022 17:03 Uhr

"Nehmen Sie alle U- und J-Untersuchungen wahr."

Röteln, Windpocken, Masern – die typischen Kinderkrankheiten kennt fast jeder. Doch gibt es auch spezielle „Jugendkrankheiten“?

Dr. med. Wolfgang Kömen ist niedergelassener Kinder- und Jugendarzt in Essen. Er erzählt, welche Erkrankungen Jugendliche häufig betreffen und worauf es bei der Behandlung in diesem Alter ankommt.

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© privat

Herr Dr. Kömen, gibt es den Betriff „Jugendkrankheiten“ überhaupt?

Kömen: In der Fachsprache gibt es das Wort nicht. Dennoch gibt es viele Erkrankungen, die wir, als Kinder- und Jugendmedizinerinnen und -mediziner, vor allem bei Patientinnen und Patienten ab etwa 12 Jahren beobachten.  Auch bereits bestehende Erkrankungen verändern sich in diesem Alter noch einmal. In der Pubertät ist vieles im Wandel, deswegen ist es wichtig, diese Zeit auch als Ärztin oder Arzt besonders zu begleiten.

Welche Krankheiten machen sich in der Jugend besonders bemerkbar?

Kömen: Tatsächlich viele, die mit dem Buchstaben „A“ beginnen: Allergien, Akne, ADHS, Asthma oder atopische Dermatitis – das ist der medizinische Fachbegriff für Neurodermitis. In der Jugend verändert sich viel. Der Körper produziert mehr Hormone, die Drüsen werden aktiv, das Abwehrsystem reagiert oft überschießend. All das sorgt dafür, dass sich Symptome von bereits vorhandenen Erkrankungen verstärken können oder ganz neue auftreten. Das betrifft selbstverständlich auch Erkrankungen ohne „A“, etwa Diabetes, eine Über- oder Unterfunktion der Schilddrüse sowie Kopfschmerzen.

Auch der Bewegungsapparat verändert sich. Eine Skoliose, eine starke Verkrümmung der Wirbelsäule, wird zum Beispiel meist im Jugendalter festgestellt. Ebenso treten psychische Erkrankungen erstmals auf, darunter auch Essstörungen. Deswegen ist es wichtig, dass auch Jugendliche zur Ärztin oder zum Arzt gehen.

Vermeiden Jugendliche Arztbesuche?

Kömen:  Jugendliche kommen von sich aus in der Regel nur, wenn sie Symptome haben, die sie wirklich nerven. Aber auch in der Jugend tragen die Eltern noch die Verantwortung. Für die meisten Eltern kleiner Kinder ist es selbstverständlich, zu den verschiedenen U-Untersuchungen zu gehen. Nach Schuleintritt bricht das plötzlich ab. Die U11-Untersuchung, die etwa mit neun Jahren stattfinden sollte, nehmen viele nicht mehr wahr. Bei der ersten Jugend-Untersuchung zwischen 12 und 14 Jahren liegt die Teilnahmequote bundesweit bei nur noch etwa 40 Prozent und bei der zweiten mit 16 Jahren sogar noch niedriger. Das ist eine gefährliche Entwicklung, finde ich.

Je eher man Krankheiten bemerkt, desto besser kann man sie behandeln und Spätfolgen vermeiden – egal, ob physischer oder psychischer Art. Manche haben zwischen der Einschulung und Anfang 20 keine Ärztin beziehungsweise keinen Arzt mehr gesehen und wundern sich dann vielleicht über eine mögliche negative Entwicklung. Deswegen rate ich Eltern dringend: Nehmen Sie alle U- und J-Untersuchungen wahr! Ich lade meine Patientinnen und Patienten auch aktiv dazu ein.

Welche Erkrankungen behandeln Sie besonders oft?

Kömen: Ich bin zum einen Diabetologe, zum anderen spezialisiert auf die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, kurz ADHS. Deswegen kommen junge Patientinnen und Patienten mit diesen Krankheitsbilden bei mir in der Praxis besonders häufig vor. Vielen Laien, aber auch zum Teil Fachleuten, ist zum Beispiel der oft enge Zusammenhang zwischen Adipositas, also krankhaftem Übergewicht, und ADHS nicht bewusst. Es gibt genetische Veränderungen, die das Risiko für beide Erkrankungen erhöhen. Außerdem fällt es Kindern mit einem Aufmerksamkeits-Defizit oft schwerer, ihren Ess-Impuls zu steuern, was dann zu Übergewicht oder einer Essstörung führt. Eine professionelle Begleitung ist für Kinder und Eltern enorm wichtig, um Spätfolgen wie Bluthochdruck oder Depressionen zu vermeiden.

Was unterscheidet die Behandlung von Jugendlichen im Gegensatz zu Kindern?

Kömen:  Die meisten Jugendlichen wollen sein wie alle anderen: fit, alles mitmachen können, nicht auffallen in ihrem Freundeskreis. Mit einer Erkrankung geht das nicht immer. Für Kinder sind ihre Erkrankungen und deren Behandlung meist selbstverständlich. Das ist eben so, sie kennen es nicht anders. Jugendliche hinterfragen das zunehmend: Warum ich? Muss das sein?

Ein typisches Beispiel: Ein Jugendlicher hat Diabetes Typ 1, entweder seit einigen Jahren oder gerade erst diagnostiziert. Er weiß, was er tun muss: Blutzuckermessen, Spritzen, Essen – oder entsprechend die Pumpe bedienen. Das ist ein Ritual, mehrmals täglich. Mit 12, 13, 14 Jahren verliert das bei manchen an Bedeutung. Und: Rituale werden langweilig. ‚Insulin heute Morgen vergessen? Egal, mir geht es ja trotzdem gerade gut‘, denken sie. Andere Aktivitäten sind gerade wichtiger. Auf der einen Seite brauchen sie dann noch die Verantwortung der Eltern, auf der anderen Seite wollten sie selbstständig sein und die Eltern nerven nur – das ist ein schmaler Grat, auf dem sich alle Beteiligten in dieser Zeit bewegen. Auch ich als behandelnder Arzt. Deswegen ist mir wichtig, Jugendliche immer wieder zu motivieren. Ich spreche viel mit ihnen.

Glücklicherweise kommen die meisten Jugendlichen gesund durch die Pubertät. Haben Sie trotzdem noch einen Tipp, die turbulente Zeit gut zu überstehen?

Kömen:  Ein eindeutiger Tipp: Jugendliche sollten ein Hobby haben! Es ist relativ egal, was es ist: eine Sportart, ein Instrument, die Jugendfeuerwehr oder eine Pfadfindergruppe – das spielt keine Rolle. Hauptsache, die Jugendlichen haben ein Interesse an einer Sache, treffen sich regelmäßig mit Gleichgesinnten und haben auch erwachsene Ansprechpartner und Vorbilder außerhalb der eigenen Familie, zum Beispiel die Trainerinnen und Trainer. Studien zeigen, dass Jugendliche mit Hobbies im Schnitt psychisch gesünder sind, bessere Schulabschlüsse schaffen und auch später stabiler im Leben stehen.

Auch Familienrituale halte ich für wichtig, insbesondere ein gemeinsames Frühstück, um nicht schon gestresst in den Tag zu starten.

Vielen Dank für das Gespräch.

Thema des Monats: Erkrankungen bei Jugendlichen

Am 12. August 2022 ist der internationale Tag der Jugend. Die Vereinten Nationen riefen diesen Tag ins Leben, um die Bedeutung der Lebensphase hervorzuheben und die politischen sowie gesellschaftlichen Belange von Jugendlichen in den Fokus zu rücken. Anlässlich des Aktionstages geht es bei uns dieses Mal um Erkrankungen, die Jugendliche häufig betreffen.

Selbsthilfegruppen können beim Umgang mit Erkrankungen unterstützen - auch Jugendliche und deren Eltern.
Ein Selbsthilfevereichnis von A wie ADHS und Adpositas bis Z wie Zöliakie und Zwangserkrankungen finden Sie bei der Kooperationsberatung für Selbsthilfegruppen, Ärzte und Psychotherapeuten (KOSA):