Service Letzte Änderung: 05.05.2022 10:08 Uhr Lesezeit: 5 Minuten

Schlaganfall-Lotsin: "Mit einem Schlaganfall gerät oft das Leben aus den Fugen."

Etwa 270.000 Menschen erleiden in Deutschland pro Jahr einen Schlaganfall. Die Erkrankung verändert das Leben der Betroffenen oft von einer Sekunde auf die andere. Nach der Akutbehandlung im Krankenhaus sollen professionelle Schlaganfall-Lotsinnen- und -Lotsen die Betroffenen und deren Angehörige ein Jahr lang durch die schwierige Zeit begleiten.

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© KV Nordrhein
Schlaganfall-Lotsin Sabine Robbers und Prof. Dr. med. Rüdiger Seitz, ärztlicher Leiter der Abteilung Neurologie am LVR-Klinikum Düsseldorf

Bisher gibt es dieses Angebot nur in wenigen Städten und Regionen Deutschlands – darunter in Düsseldorf. Prof. Dr. med. Rüdiger Seitz, ärztlicher Leiter der Abteilung Neurologie am LVR-Klinikum Düsseldorf, sowie Schlaganfall-Lotsin Sabine Robbers erzählen von ihren Erfahrungen.

Frau Robbers, Sie sind Schlaganfall-Lotsin. Was ist das?

Robbers: Mit einem Schlaganfall gerät oft das ganze Leben der Betroffenen aus den Fugen. Die Erkrankung kann so viele verschiedene Folgen haben – von einer halbseitigen Lähmung über Sprachschwierigkeiten bis hin zu Konzentrationsproblemen und Persönlichkeitsveränderungen. Ich begleite die Patientinnen und Patienten ein Jahr lang nach dem Schlaganfall bei allen Fragen. Schlaganfall-Lotsinnen- und Lotsen sind in der Regel Pflegekräfte, Therapeutinnen und Therapeuten oder Sozialarbeiter, die bereits Erfahrung mit neurologischen Krankheitsbildern mitbringen und zusätzlich eine Fortbildung im Case-Management absolviert haben. Ich zum Beispiel habe vorher bereits viele Jahre als Physiotherapeutin auf der Schlaganfall-Station gearbeitet.

Das LVR-Klinikum hat die Lotsen-Stelle 2020 geschaffen. Wie kam es dazu?

Seitz: Wir behandeln Schlaganfall-Betroffene unmittelbar nach Beginn ihrer Erkrankung. Sie bleiben einige Tage oder Wochen bei uns, dann verlieren wir sie meist aus den Augen. Die Versorgung von Schlaganfall-Patienten in den Akut- und Rehakliniken gehört in Deutschland zu den besten weltweit. Aber wie geht es weiter, wenn die Menschen wieder zu Hause sind?
Ich stehe in engem Kontakt mit der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe. Diese hat gemeinsam mit mehreren Kliniken und anderen Partnern ein Pilotprojekt mit Schlaganfall-Lotsinnen und –Lotsen in Ostwestfalen-Lippe gestartet. Ich war begeistert und wollte eine solche Position auch bei uns schaffen. Wie nötig das ist, hat sich schnell gezeigt.

Inwiefern ist eine Lotsen-Begleitung nötig?

Seitz: Ich habe vermutet, dass bei der Nachsorge einiges im Argen liegt. Aber wie schwierig es für Betroffene und Angehörige wirklich ist, sich durch den Dschungel des Gesundheitssystems zu kämpfen, habe ich jetzt erst verstanden. Da ist professionelle Hilfe dringend nötig.

Robbers: Viele Betroffene und Angehörige fühlen sich alleine gelassen. Ein Schlaganfall ist schlimm genug, dann kommt auch noch die Recherche und Organisation dazu. Wie organisiere ich die Pflege? Was mache ich, wenn ich keine Therapeuten finde? Welche Hilfsmittel sind notwendig? Unter welchen Umständen darf ich wieder Autofahren? Und vor allem: Was kann ich tun, um einen weiteren Schlaganfall zu verhindern? Ich informiere, helfe bei der Organisation und unterstütze – falls nötig – auf dem Weg zu einem gesünderen Lebensstil.

Haben Sie ein konkretes Bespiel?

Robbers: Ein Mann ist seit seinem zweiten Schlaganfall ein schwerer Pflegefall. Er ist getrennt, seine Töchter studieren noch. Die beiden kümmern sich wunderbar, sind aber noch jung und mit der Situation sehr gefordert. Mit jedem Punkt, der erledigt ist, kommen gerade neue Fragen auf: Erst gab es Schwierigkeiten mit dem Pflegedienst. Dann hatte der Vater einen enorm hohen Blutdruck und es stellte sich heraus, dass er gar keine Blutdruckmedikamente verschrieben bekommen hatte. Da er sich kaum bewegen kann, benötigte er eine spezielle Matratze, um sich nicht wund zu liegen. Später gab es Probleme mit dem Katheter-Wechsel. Es waren Änderungen im vorhandenen Behindertenausweis nötig. Aktuell suchen die Töchter Therapeutinnen oder Therapeuten, die nach Hause kommen, weil sie den Vater nicht eine Praxis bringen können. Wir telefonieren derzeit jede Woche miteinander. Andere Betroffene und Angehörige haben weniger Beratungsbedarf, sind aber trotzdem froh, eine feste Ansprechpartnerin zu haben.

Wie können Betroffene eine Lotsin oder einen Lotsen bekommen?

Robbers: Leider gibt es noch nicht viele Lotsinnen und Lotsen. In der Region Düsseldorf bin ich momentan die Einzige. Ich spreche die Betroffenen und deren Angehörigen bereits auf der Schlaganfall-Station des LVR Klinikums an und frage, ob sie Interesse an einer einjährigen Begleitung haben. Dafür haben wir bestimmte Kriterien. Es muss zum Beispiel eine Verständigung in deutscher Sprache möglich sein und die Betroffenen dürfen nicht im Pflegeheim wohnen. Im Heim sind sie sowieso bereits versorgt. Betroffene und Angehörige aus dem Raum Düsseldorf können sich auch an den Verein ‚Düsseldorfer Initiative gegen den Schlaganfall‘ wenden, mit der wir eng zusammenarbeiten.

Seitz: Frau Robbers kann nur einen Bruchteil der Betroffenen begleiten, die bei uns behandelt werden. Die Kosten für ihre Stelle trägt die Klinik derzeit aus eigenen Mitteln – ohne Refinanzierung. Die Lotsinnen und Lotsen in Ostwestfalen-Lippe, wurden zunächst im Rahmen eines Innovationsfond-Projektes des Bunds finanziert, jetzt über einen Selektivvertrag mit den Krankenkassen. Ähnliche Projekte in Deutschland haben unterschiedliche Finanzierungswege gefunden, etwa durch die Stadt oder private Unternehmen. Wir wünschen uns alle, dass sich das in Zukunft ändert. Unser Ziel: Jeder Betroffene soll Anspruch auf eine Lotsen-Begleitung haben, die Krankenkassen übernehmen die Kosten. Die Uni Bielefeld wertet gerade die Ergebnisse des Projekts aus Ostwestfalen-Lippe aus. Wir sind gespannt auf die Ergebnisse und hoffen, dass sie auch die Politik und die Krankenkassen überzeugen werden. Die Rückmeldungen der Patienten, die Frau Robbers begleitet hat, sind sehr positiv.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

Thema des Monats: Schlaganfall

Am 10. Mai ist der "Tag gegen den Schlaganfall" der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe.

Die KV Nordrhein widmet sich deswegen im Mai 2022 diesem Schwerpunktthema.