Service Letzte Änderung: 29.08.2023 10:13 Uhr Lesezeit: 4 Minuten

Erfahrungsbericht: "Wir sind als Patientinnen und Patienten nicht selbst schuld an unserer Situation"

Teil 2/2: Nadine aus Troisdorf bekommt seit ihrer Jugend Migräne-Attacken. In den vergangenen Jahren verschlimmerte sich die Erkrankung. Sie erzählt, wie sich die Kopfschmerzen auf ihren Alltag auswirken, wie sie damit umgeht und was ihr Mut macht.

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© privat / App Schmerzklinik Kiel
Nadines Migräne-Attacken haben in den vergangenen Jahren zugenommen. Tage ohne Kopfschmerzen sind selten geworden.

„Die Migräne schränkt mich im Alltag sehr ein, aber in gewisser Weise gehört das inzwischen zu meinem Alltag. Ich kann kaum auflisten, welche Behandlungen ich bereits ausprobiert habe – klassische Schmerzmittel, Prophylaxen, Triptane, Neurofeedback, progressive Muskelentspannung, moderater Ausdauersport. Dazu kommen verschiedene Ernährungsumstellungen, um zu testen, ob es mir zum Beispiel ohne Zucker oder ohne Histamin bessergeht. Alle zwölf Wochen bekomme ich Botulinumtoxin, also Botox, in Kopf, Nacken und Schultern, gespritzt, was einige Tage Linderung verschafft. Der Hausarzt und der Neurologe begleiten mich zwar toll, können aber selbstverständlich auch keine Wunder gegen die Migräne wirken.

Trotzdem gebe ich die Hoffnung für die Zukunft nicht auf: Spannungskopfschmerzen und Migräne betreffen enorm viele Menschen. Das Krankheitsbild ist relativ lukrativ für die Pharmaindustrie. Das ist in diesem Fall positiv: Es wird viel Geld in die Forschung investiert und es gibt immer wieder neue Behandlungsansätze oder Medikamente. Daher bleibe ich zuversichtlich, dass sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch viel tun wird in diesem Bereich. Vielleicht ist dann auch für mich wieder ein Leben mit weniger Migräne-Attacken möglich.

Mir hat ein Aufenthalt in der Schmerzklinik in Kiel sehr geholfen, wo ich zusammen mit meiner ebenfalls betroffenen Tochter war. Ein wichtiger Punkt, der dort immer wieder betont wurde: Wir sind als Patientinnen und Patienten nicht selbst schuld an unserer Situation!

Es tat gut, das immer wieder so deutlich zu hören. Von anderen Menschen wird einem sonst häufig suggeriert, dass man selbst verantwortlich sei für die Situation. Zu viel Stress, zu wenig Sport, falsche Ernährung, sich zu sehr hineinsteigern und so weiter.

Die Expertinnen und Experten haben uns erklärt: Das Gehirn von Migränepatienten arbeitet auf einem hohen Level. Deswegen sind Migräne-Patienten – wenn sie gerade keine Kopfschmerzen haben – oft auch schnelle, effektive Denker. Das erlebe ich bei mir auch: Wenn es mir gut geht, kann ich viel und schnell auffassen und verarbeiten. Dann arbeite ich auch im Büro viel ab. Auf der anderen Seite leidet das Gehirn aber an einer Reizverarbeitungsstörung – Informationen werden schnell zu viel. Das erklärt auch meine Überforderung mit vielen Reizen auf einmal, zum Beispiel im Supermarkt.

In der Klinik gab es eine Mischung aus medizinischer Behandlung, Psychotherapie, Physiotherapie und Sportprogramm. Dazu kamen Seminare zur Schmerzverarbeitung und Entspannung, ebenso wie abendliche Fachvorträge. Wie stelle ich den Antrag auf Schwerbehinderung? Kann ich in Frührente gehen? Welche Möglichkeiten zum Nachteilsausgleichen haben Schülerinnen und Schüler?

Dort habe ich auch gelernt, den Fokus nicht nur auf die negativen Aspekte zu legen, sondern vor allem auf die positiven.

Was läuft gut? Was kann ich? Ich habe zwei wunderbare Kinder und einen liebe- und verständnisvollen Mann. Ich weiß, dass ich trotz meiner Fehltage für unseren Betrieb wichtig bin, weil ich immer den Überblick über unsere Finanzen habe und gut kalkulieren kann. Ich habe zwischendurch immer wieder gute Tage, an denen ich schöne Stunden mit meiner Familie und Freunden verbringe. Dafür lohnt es sich, am Ball zu bleiben.

In Kiel hat mir der Kontakt zu anderen Betroffenen gutgetan: Alle hatten Verständnis füreinander und haben sich gegenseitig geholfen. Das erlebe ich auch in den Facebook-Gruppen, in denen ich aktiv bin. Es gibt neue Anregungen und Erfahrungsberichte, die Mitglieder machen sich gegenseitig Mut, aber es ist auch in Ordnung, sich einfach mal den Frust von der Seele zu schreiben. Mir hilft das, psychisch stabil zu bleiben. Jetzt geht es bald vier Wochen in die Reha und ich hoffe auch dort, wieder neue Anregungen für den Alltag zu erhalten.

Mein Rat an andere Betroffene: Führt ein Kopfschmerztagebuch, zum Beispiel als App von der Schmerzklinik Kiel. So behält man selbst den Überblick: Wann waren die Kopfschmerzen wie stark? Wie viele Medikamente habe ich diesen Monat schon genommen? Für mich sind die Eintragungen längst Routine.

Gewöhnen werde ich mich an die Migräne nie, aber das Leben geht weiter.“