Service Letzte Änderung: 04.07.2022 17:17 Uhr Lesezeit: 4 Minuten

„Ich will anderen Mut machen.“

(Teil 1/2): Marion Kremerius erhielt bereits 1977 die Diagnose Multiple Sklerose. Seit vielen Jahren setzt sie sich für andere Betroffene und Menschen mit Behinderung ein. Sie erzählt von ihren Erfahrungen:

data-gallery-buttons="["zoom","fullScreen","download","close"]"
© privat
Marion Kremerius (1. v.l.) beim Treffen der Selbsthilfegruppe MS-Treff Erkrath

„Ich habe den Ärzten damals angemerkt, wie unangenehm ihnen das Gespräch war. Schließlich mussten sie mir als junge Frau eine schwerwiegende Diagnose übermitteln. Mit dem Begriff Multiple Sklerose konnte ich damals nichts anfangen, aber es war klar: Lange würde ich nicht mehr leben. Das war 1977.

Es war nicht leicht, mit der Diagnose umzugehen, aber ich versuchte so normal wie möglich weiterzuleben – aller Prognosen zum Trotz. Der Umgang der Fachleute mit der Erkrankung war damals völlig anders als heute. Die Betroffenen sollten zum Beispiel Stress um jeden Preis vermeiden. Stressvermeidung tut sicher gut, nahm aber absurde Ausmaße an. So durften wir als Betroffene in der Rehaklinik zum Beispiel keine Nachrichten und keine Krimis ansehen, um Aufregung zu vermeiden. Sport war komplett verboten. Aus heutiger Sicht kann ich darüber lachen.

Damals arbeite ich als Programmiererin – ein Beruf, den damals kaum jemand kannte und den ich unheimlich spannend fand. Für die Rechenkapazität, die heute jeder Schul-Taschenrechner hat, waren zu der Zeit ganze Räume nötig. Gegen jede Empfehlung arbeitete ich weiter und die Normalität tat mir gut.

Und ich entschied mich, trotz meiner Erkrankung eine Familie zu gründen. Ich erinnere mich gut daran, wie wütend mein behandelnder Arzt wurde. Er schrie mich an, wie ich es wagen könnte, schwanger zu werden. Heute weiß man: In der Regel bekommen Schwangere selten Krankheitsschübe, vielen geht es in dieser Zeit sogar viel besser. Trotzdem gibt es natürlich eine Menge zu beachten, zum Beispiel bei der Einnahme von Medikamenten.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich unheimlich viel getan. Multiple Sklerose ist längst kein Todesurteil mehr, die Lebenserwartung ist fast normal. Die Krankheitsfolgen, an denen früher viele Betroffene verstorben sind, zum Beispiel Harninfektionen oder Darmverschlüsse, Schluckstörungen, Atemwegserkrankungen und so weiter lassen sich heute effektiver behandeln. Es gibt zahlreiche Medikamente, die individuell ausgewählt und zusammengestellt werden. Allerdings haben sie zum Teil auch sehr starke Nebenwirkungen. Die Ursache der Erkrankung ist bis heute nicht bekannt, aber durch die Behandlungsmöglichkeiten hofft man den Verlauf der MS zu verlangsamen oder positiv zu beeinflussen.

Die größte Krise hatte ich in den 90er Jahren: Durch einen Krankheitsschub war ich vom Hals abwärts gelähmt. Meine zwei Töchter waren jung, ich musste aufhören zu arbeiten. Es hat Jahre gedauert, bis ich wieder auf die Beine kam, aber der Kampf und das Training haben sich gelohnt: Erst ging es vom Rollstuhl an den Rollator, dann an den Stock und irgendwann konnte ich wieder ohne Gehhilfe laufen. Eine Entwicklung, die nicht selbstverständlich ist, aber eben auch möglich. Nie aufgeben!

Meine Arbeit, die ich sehr gerne gemacht habe, konnte ich nicht mehr ausführen, aber als es mir wieder besserging, begann ich ein Psychologie-Studium. Mein zweiter Traumberuf, den ich jetzt studieren konnte. Mir war klar: Ich will anderen Mut machen. Mut, trotz der Diagnose ein erfülltes Leben zu führen. Mut, seinen eigenen Weg zu finden. Mut, nach Rückschlägen weiterzumachen. Deswegen engagiere ich mich seit vielen Jahren in der Selbsthilfe.“

Mehr über ihre Arbeit in der Selbsthilfe gibt’s im zweiten Teil.

Thema des Monats: Multiple Sklersose

Am 22. Juli ist der "Welttag des Gehirns", den die Neurologie-Weltföderation ins Leben gerufen hat. Sie möchte damit auf Erkrankungen aufmerksam machen, die das Gehirn betreffen - unter anderem Multiple Sklerose.
Außerdem ist vor kurzem die erste Patientenleitline zum Thema "Multiple Sklerose" erschienen. Deswegen berichtet die KV Nordrhein im Juli 2022 im Rahmen des "Thema des Monats" über die Erkrankung.
Weitere Informationen für Betroffene und Interessierte unter:

Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (Bundesverband)

Deutsche Multiple Sklerorse Gesellschaft (Landesverband NRW)

Deutsche Hirnstiftung

Neurologie-Weltföderation (auf Englisch)