Service Letzte Änderung: 15.09.2023 09:06 Uhr Lesezeit: 4 Minuten

Interview: „Die Behandlung von Kopfschmerzen ist immer individuell.“

Dr. med. Wenke Hirschbiegel ist Fachärztin für Allgemeinmedizin, Schmerztherapeutin und Mitglied der Qualitätssicherungskommission für Schmerztherapie der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein. In ihrer Düsseldorfer Praxis begleitet sie unter anderem zahlreiche Kopfschmerz-Patientinnen und -Patienten.

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© Andrzej Wilusz | Adobe Stock
Bei vielen Menschen sind wegen Kopfschmerzen in medizinischer Behandlung.

Frau Dr. Hirschbiegel, Sie begleiten seit Jahrzehnten zahlreiche Kopfschmerz-Patientinnen und –Patienten. Was sind die häufigsten Arten von Kopfschmerzen?
Hirschbiegel: Mehr als die Hälfte meiner Patientinnen und Patienten leider unter Spannungskopfschmerz, dazu kommen fast 40 Prozent mit Migräne. Die restlichen Prozent haben andere Formen von Kopfschmerzen, zum Beispiel Clusterkopfschmerzen.

Woran erkenne ich den Unterschied?
Hirschbiegel: Der Spannungskopfschmerz wird oft als dumpfer, drückender Schmerz beschrieben, Migräne eher als pochend-pulsierend. Die Kopfschmerzintensität ist beim Spannungskopfschmerz leicht bis mittelstark, während Migränepatienten über starke Kopfschmerzen, meist einseitig, klagen. Ein wichtiges Kriterium: Wie verhält sich der Kopfschmerz bei körperlicher Anstrengung, zum Beispiel Treppensteigen mit schwerer Einkaufstasche? Der Migränekopfschmerz verschlimmert sich, während der Spannungskopfschmerz sich nicht verändert. Frauen sind davon häufiger betroffen als Männer.

Unter welchen Umständen sollte ich eine spezielle Schmerztherapie in Betracht ziehen?
Hirschbiegel: Die meisten Betroffenen werden von den Hausärztinnen und –ärzten an mich überwiesen. Sie kennen die Betroffenen schon länger und können meist einschätzen, für wen eine Schmerztherapie infrage kommt. Dabei spielt auch der persönliche Leidensdruck eine Rolle. Wie sehr beeinträchtigt der Kopfschmerz meine Lebensqualität und meinen Alltag? Das ist sehr individuell.

Viele Betroffene therapieren sich auch über längere Zeiträume selbst, ganz ohne Rücksprache mit Ärztinnen und Ärzten …
Hirschbiegel: Das stimmt – und ich halte es für falsch. Wenn jemand in Ausnahmefällen eine nicht-verschreibungspflichtige Schmerztablette nimmt, ist das sicherlich in Ordnung. Aber das sollte keinesfalls zur Routine werden. Zum einen denken viele, dass Kopfschmerztabletten sowieso die einzig sinnvolle Therapie sind. Zum anderen behalten einige ihre Tabletten-Einnahme nicht im Blick, so dass sie zu oft zu Tabletten greifen. Wer regelmäßig Kopfschmerzen hat – in welcher Form auch immer –, sollte sich ärztlich beraten lassen. Je früher man professionell gegensteuert, desto besser ist es.

Zu Ihrem ersten Punkt: Welche Maßnahmen gibt es denn noch, außer Tabletten?
Hirschbiegel: Einige! Ich bilde mich als Schmerztherapeutin ständig fort, um die neuesten Entwicklungen im Blick zu halten. Die Therapie muss der individuellen Situation angepasst sein. Deswegen sind für mich intensive Gespräche und das Führen eines Kopfschmerzkalenders Voraussetzungen für die Diagnosestellung und die Therapieempfehlung. Wichtig ist unter anderem: Wie ist der Verlauf der Erkrankung und wie schwerwiegend sind die Auswirkungen aktuell? Liegen neben dem Spannungskopfschmerz oder der Migräne noch andere Erkrankungen vor, zum Beispiel Bluthochdruck oder eine Herz-Kreislauf-Erkrankung? Ist die Erkrankung rein physisch bedingt oder spielen psychische Faktoren, etwa depressive Verstimmungen auch eine Rolle? Wie groß ist die Angst vor der nächsten Attacke? Allein die Angst vor dem Schmerz kann belastend sein. Erst nach einer sorgfältigen Anamneseerhebung kann ich eine korrekte Diagnose stellen und das Behandlungskonzept festlegen. Neben der medikamentösen Therapie sind nicht-medikamentöse Verfahren ein ganz entscheidender Baustein. Die Kombination aus beidem ist effektiver als jede Maßnahme für sich allein. Basisempfehlungen sind: Ausdauersport, am besten dreimal 30 Minuten pro Woche, Entspannungsverfahren, Verhaltenstherapie bis hin zur Lebensstil-Beratung.

Als zweiten Punkt nannten Sie den Übergebrauch von Schmerzmitteln …
Hirschbiegel: Ein rezeptfreies Schmerzmittel kann ja nicht so schlimm sein, denken viele. Es ist fast ein Lifestyle-Produkt geworden, viele Leute haben ständig Schmerzmittel bei sich, selbst, wenn sie sie nicht oft brauchen. Diese Selbstverständlichkeit hat ihre Tücken. Die Faustregel ist: Man sollte bei bestehender Kopfschmerzerkrankung an höchstens zehn Tagen pro Monat ein Schmerzmittel beziehungsweise spezifische Migränemittel, zum Beispiel Triptane, einnehmen. Mit der Betonung auf ,,höchstens“. Denn bei mehr als zehn Einnahmetagen können auch die Tabletten selbst Kopfschmerzen auslösen. Es kommt zu einem sogenannten Medikamentenübergebrauchskopfschmerz. Dann kann der Kopfschmerz chronisch werden und die Einnahme-Spirale schraubt sich weiter hoch. Daher appelliere ich nicht nur an die Betroffenen, sondern ehrlich gesagt auch an meine ärztlichen Kolleginnen und Kollegen: Achten Sie darauf, ob es sich wirklich noch um den ,,ursprünglichen“ Kopfschmerz handelt oder um einen medikamenteninduzierten Kopfschmerz – Stichwort Kopfschmerzkalender!

Die Therapie des Medikamentenübergebrauchskopfschmerz, der sich auf dem Boden einer Migräne entwickelt hat, besteht aus einer Entzugsbehandlung,  das heißt aus dem kompletten Absetzen der Akutmedikation bei gleichzeitigem Einsatz von migräneprophylaktisch wirksamen Substanzen wie Topiramat, Botulinumtoxin oder einem monoklonalen Antikörper, der gespritzt wird. Je nach Situation kann das ambulant, tagesklinisch oder in schweren Fällen stationär durchgeführt werden.

Welche Rolle spielen denn die Medikamente in der Behandlung?
Hirschbiegel: Trotz aller guter, ergänzender Therapieformen: Ohne Medikamente geht es nicht. Genauso wie ich Menschen erlebe, die lange Zeit zu viele eingenommen haben, erlebe ich auch immer wieder Betroffene, die Medikamente um jeden Preis vermeiden wollen. Beides ist keine gute Idee.

Für die Akutbehandlung einer schweren Migräneattacke haben die Triptane nach wie vor einen hohen Stellenwert. Am schnellsten wirksam ist das Präparat Sumatriptan, das auch gespritzt werden kann. Diesbezüglich gibt es zwei neue Substanzklassen, Ditane und Gepante, die die Therapiemöglichkeiten erweitern.

Von großer Bedeutung ist die Durchführung einer medikamentösen Prophylaxe. Prophylaxe ist der medizinische Begriff für Maßnahmen, die der Vorbeugung dienen.

Es gibt also eine medikamentöse Vorsorge gegen die Migräne-Attacken?
Hirschbiegel: Ja, die Prophylaxe hilft, Migräne-Attacken in der Häufigkeit, der Dauer und der Intensität zu reduzieren. Leider kommen immer wieder schwer betroffene Patientinnen und Patienten zu mir, die bislang in dieser Hinsicht schlecht oder gar nicht versorgt sind. In manchen Praxen besteht sicherlich noch Schulungsbedarf, in anderen läuft das Migränemanagement sehr gut.

Mit der richtigen, individuell angepassten Behandlung lassen sich Kopfschmerzerkrankungen zwar nicht heilen, aber man kann zumindest die Symptomatik lindern.