Service Letzte Änderung: 26.07.2023 14:06 Uhr Lesezeit: 4 Minuten

Interview: „Es ist nicht so einfach, das Symptom Einsamkeit zu erkennen.“

Dr. med. Michael Fritz ist Facharzt für Allgemeinmedizin und Sportmedizin in Viersen. Er setzt sich seit Jahren für Gruppen-Laufprojekte ein und erstellt individuelle Trainingspläne. Seine Erfahrung: Bewegung und Sport sind nicht nur wichtig für den Körper, Geist und Seele, sie können auch ein Weg aus der Einsamkeit sein.

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© privat

Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrer Praxis mit dem Thema Einsamkeit gemacht?
Fritz: In der Sprechstunde des Hausarztes ist es nicht so einfach, das Symptom Einsamkeit zu erkennen. Die Diskrepanz zwischen den gewünschten und den tatsächlichen sozialen Beziehungen nimmt häufig nicht einmal der Patient selbst wahr. Es gibt ja auch keine objektiven Messparameter. Wer offenbart sich denn schon in der Sprechstunde mit dem Satz, "Herr Doktor, mir fehlt eine sinnstiftende erfüllende Beziehung?“.

Er oder sie präsentiert sich eher mit einem Mischbild aus unangenehm empfundenen körperlichen und emotionalen Störungen, die die Person häufig selbst nicht näher einzuordnen weiß. Manche Patientinnen und Patienten leiden sogar unter Einsamkeit, obwohl sie verheiratet, viel beschäftigt und nicht sozial isoliert sind.  Es ist nicht immer so einfach, diese psychosoziale Dysbalance zu erkennen.

Manche Menschen wissen wahrscheinlich, was ihnen fehlt. Warum fällt es trotzdem so schwer auszusprechen: „Ich fühle mich einsam.“?
Fritz: Einsamkeit ist noch immer mit einer gesellschaftlichen Stigmatisierung verbunden. Deswegen fällt es oft schwer, sich die Situation einzugestehen – selbst, wenn sie einen krank macht. Es handelt sich um eines der letzten Tabuthemen dieser Zeit. Wer will schon sich und anderen eingestehen, den sozialen Standards nicht zu genügen? Und sich vielleicht sogar dem Vorwurf auszusetzen, für seine soziale Isolation auch noch selbst verantwortlich zu sein? Leider kann ich weder die Befreiung aus der sozialen Isolation noch eine sinnstiftende erfüllende Beziehung auf Rezept verordnen.

Kommen einsame Menschen öfter in die Praxis? Auch, weil sie sonst wenig Ansprache haben?
Fritz: Ich denke, ja. Wem könnten sie sonst ihr Leid klagen? Pfarrer und Freunde sind noch rarer als Ärzte, die zuhören. Der Arztbesuch ist sozial hoch akzeptiert. Ein Besuch bei der Lebenshilfe dahingegen stigmatisiert. Man kann den Patienten aber auch schlecht einen Vorwurf machen, denn meist erkennt der Mensch gar nicht den kausalen Zusammenhang zwischen den ihn ängstigenden körperlichen Beschwerden und seiner sozialen Isolation. Auch die Hausärztin oder der Hausarzt kann diesen Zusammenhang oft erst nach gewissenhafter Abklärung und Ausschluss von begleitenden Krankheiten im Zusammenhang mit der gemeinsam durchlebten Krankengeschichte aufdecken.

Sie sind Sportarzt. In welchem Zusammenhang stehen Bewegung und Einsamkeit?
Fritz: Bewegung und Sport sind ein gutes, mögliches Mittel, sich aus der Einsamkeitsspirale mit ihren Begleiterkrankungen zu befreien. Zumindest können Betroffene die Drehgeschwindigkeit dieser gesundheitlichen Abwärtsspirale verlangsamen. Sport- und Bewegungstherapie kann helfen, den Folgen der Einsamkeit vorzubeugen. So können zum Beispiel Depressionen, Angsterkrankungen, Befindlichkeits-, Schlaf- und  Essstörungen, Übergewicht, Diabetes, Bluthochdruck und so weiter reduziert oder vermieden werden.

Darüber hinaus wirken Sport und Bewegung der Entwicklung von Einsamkeit entgegen, da sie glücklich machen! Glück empfinden Menschen gemäß der „PERMA- Formel“ eher, wenn sie die folgenden fünf Faktoren in ihr Leben integrieren können:

  • Positiv Emotions (Positive Emotionen)
  • Engagement
  • Relationship (Beziehungen zu anderen Menschen, nicht nur Liebesbeziehungen)
  • Meaning & Purpose (Sinn & Zweck)
  • Accomplishment (Leistung, also wenn man etwas geschafft hat, was man sich vorgenommen hat)

Analog zum PERMA-Akronym erhalten sich auf diese Weise viele Sportlerinnen und Sportler durch selbstproduziertes Glücksempfinden die Freude an der Bewegung:

  • Positiv Emotions: Freude, Stolz, Zufriedenheit, Hoffnung, Perspektive, Optimismus
  • Engagement: Einsatz der individuellen Fähigkeiten für etwas Großes
  • Relationship: Ein Netzwerk aus Sportverein und Trainingspartnern auf freundschaftlicher kameradschaftlicher Kommunikationsebene befreit aus der sozialen Isolation
  • Meaning & Purpose: Sinn erkennen und erleben, um sich durch sinnstiftendes Training die eigene Kraft, Ausdauer und Gesundheit als persönliches Glück selbstwirksam erarbeiten zu können.
  • Accomplishment: In der Vollendung meines selbst gewählten Pensums und meiner selbstdefinierten Zielerreichung gelingt es mir, Fußabdrücke meines Lebens zu hinterlassen.

Ein Cocktail aus Serotonin, Phenylethylamin, Glutamat, Endocannabinoide, Myokinen und Neuropeptiden sorgt darüber hinaus für eine Art chemische Glücksdusche im Körper – und zwar ganz ohne die Einnahme von irgendwelchen Substanzen.

Sie haben freie Lauf-Projekte organisiert und begleitet, um Menschen zu ihren ersten Fünf- oder Zehn-Kilometerläufen zu motivieren. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?
Fritz: Ich konnte beobachten, wie viele Couch Potatoes sich in den Schulungsveranstaltungen und im Gruppentraining begeistern ließen und aufblühten. Sie genossen die Begnungsplattform in organisierter Struktur, allerdings ohne Vereinsverpflichtung. Es gab zum Beispiel ein öffentliches Casting, bei dem den Teilnehmern die Aufmerksamkeit in der lokalen Presse und damit in der Öffentlichkeit zuteil wurde. Das hat zu einer hohen Bindung an das Projekt geführt, denn wer sich öffentlich zur Teilnahme bekannt hat, gibt nicht leichtfertig auf. Die Teammitglieder genossen ihre lebensumstellenden Maßnahmen als Schritt in ein neues, aktives Leben. Eine digitale projektinterne Kommunikationsplattform schafft Gruppendynamik. Verabredungen zum Training sichern die Motivation, denn den Trainingspartner lässt man nicht im Regen stehen. Die Ausrichtung auf ein Event, dessen Zielerreichung für die meisten Teilnehmer bis dahin nicht realisierbar schien, beflügelt viele. Aus diesen Projekten sind zahlreiche privat organisierte Lauftreffs, langjährige Freundschaften und sogar mehrere Ehen hervorgegangen. 
So war für einige Leute das Laufen sicherlich auch ein Schritt aus der Einsamkeit hinaus.  

Was geben Sie Ihren (einsamen) Patientinnen und Patienten mit auf den Weg?
Fritz: Einen Plan gemäß dem Motto "one size fits all" – also einen Einheitsplan - gibt es hier nicht. Hinter jedem Fall steht ein anderes Schicksal. Dem versuche ich mich zunächst im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung zu nähern. Aktives Zuhören, Verständnis für die Perspektiven des Patienten, das Benennen und Anerkennen von Gefühlen, die Reflexion der Reaktionsmuster und die Einleitung eines Perspektivwechsels sind hierbei bewährte Maßnahmen, das Einsamkeitsvermögen zu stärken und die Resilienz zu fördern. Gerne erarbeite ich mit meinen Patienten im nächsten Schritt die sieben Säulen der Resilienz, um Orientierung zu vermitteln: Akzeptiere die Krise, verlasse die Opferrolle, schaue optimistisch in die Zukunft, orientiere dich an Lösungen, übernehme die Verantwortung für dein Leben, pflege ein großes soziales Netzwerk und gestalte aktiv deine Zukunft. Ein angemessenes Bewegungsprogramm kann bei sportaffinen Patienten eine hilfreiche Struktur bieten, mit deren Hilfe Betroffene eigenständig und selbstwirksam diese Empfehlungen einüben und umsetzen können. Nur der einfache Ratschlag "treiben sie Sport" ist an dieser Stelle nicht ausreichend.

Sondern?
Fritz: Eine motivierende Zieldefinition sollte SMART sein. SMART heißt auf Deutsch so viel wie „schlau“ oder „klug“. In diesem Fall handelt es sich wieder um eine Akronym für:
Spezifisch-Messbar-Akzeptiert oder Attraktiv-Realistisch-Terminiert.

Ein Beispiel:

  • Spezifisch: Ich möchte an einem Zehn-Kilometer-Lauf teilnehmen.
  • Messbar: Ich schaffe die Distanz in einer gewissen Zeit – das kann ich gegebenenfalls bereits beim Training im Auge behalten und meine Fortschritte festhalten.
  • Akzeptiert/Attraktiv: Ich habe wirklich Lust, gerade diese Sportart zu betreiben und an diesem Volkslauf teilzunehmen, dafür trainiere ich gern.
  • Realistisch: Wenn ich lange keinen Sport gemacht habe, vielleicht etwas übergewichtig und Ex-Raucher bin, dann macht es keinen Sinn, direkt an einen Marathon zu denken. Fünf Kilometer sind auch ein toller Erfolg – und danach kommt vielleicht das nächste Ziel.
  • Terminiert: Der Lauf ist an einem bestimmten Datum in einigen Monaten. Bis dahin will die fünf oder zehn Kilometer gut schaffen.

Ein gut strukturierter Trainingsplan vermittelt dem Patienten, was, wieviel, warum, wie und wann trainiert werden sollte und kann so Halt verleihen und hilfreich sein, einen Weg aus der Einsamkeit zu finden.

Vielen Dank für das Gespräch.