Service Letzte Änderung: 11.08.2022 16:53 Uhr Lesezeit: 5 Minuten

Psychotherapie: "Die Anfragen haben während der Pandemie deutlich zugenommen"

Psychische Erkrankungen nehmen zu – auch bei Kindern und Jugendlichen. Die Corona-Pandemie hat die Anfragen in kinderpsychiatrischen und -psychotherapeutischen Praxen nach Therapieplätzen noch einmal in Höhe schnellen lassen. Wie kommt es dazu? Und wie kann eine Therapie helfen? Das erklärt Melanie Hinzke, Diplom-Pädagogin, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Sie arbeitet im Ambulanten Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie in Mülheim.

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© privat
Melanie Hinzke, Ambulantes Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in Mühlheim

Wie stellen Eltern eine mögliche psychische Erkrankung bei ihrem Kind fest? Oder merken die Kinder oder Jugendlichen das auch selbst?

Hinzke: Je nach Auswirkung der Erkrankung kann das sehr unterschiedlich sein: Gut sichtbare Störungen, zum Beispiel ein ADHS mit stark impulsivem Verhalten, werden im Allgemeinen rasch von Eltern, Erziehern, Lehrern und anderen nahestehenden Personen erkannt und dann entsprechend untersucht. Andere Störungsbilder verlaufen überwiegend im Stillen, etwa Angststörungen, bestimmte Formen von Autismus oder später auch Psychosen. Wenn diese nicht erkannt werden, bleiben sie teilweise etliche Jahre unterversorgt.

Im Allgemeinen gilt: Jüngere Kinder können ihr Verhalten selbst nicht kritisch reflektieren, aber sie leiden sehr wohl unter den Folgen leiden. Sie wünschen sich zum Beispiel mehr Freunde oder ein besseres schulisches Zurechtkommen. Zudem sind Eltern zunehmend besser darüber informiert, was es für häufige Verhaltensstörungen im Kindesalter gibt. Außerdem scheint eine kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung zunehmend weniger stigmatisiert zu sein. Das ist gut so. Früher haben sich Eltern zum Teil aus Scham keine Hilfe geholt, weil sie dachten, eine psychische Erkrankung könnte auf eine schlechte Erziehung hindeuten. Wir sehen das umgekehrt: Eltern, die Hilfe in Anspruch nehmen, zeigen, dass sie sich kümmern.

Ist die Jugend beziehungsweise die Pubertät eine Zeit, in der psychische Erkrankungen oft erstmals auftreten?

Hinzke: An dieser Frage lassen sich die unterschiedlichen Grundlagen von Störungen des Verhaltens gut differenzieren. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie muss sich mit psychischen Störungen auseinandersetzen, die sehr unterschiedliche Ursachen haben:

1. Bereits sehr früh treten stark ausgeprägte, oft anlagebedingte Störungen in Erscheinung, etwa frühkindlicher Autismus oder Folgen einer Behinderung oder Erkrankung. Dazu können zum Beispiel geistige Behinderungen gehören.

2. Etwas später, also etwa im Grundschulalter, werden Störungen wie ADHS oder geringer ausgeprägte autistische Störungen, Störungen des Sozialverhaltens oder der schulischen Funktionen ersichtlich, die gleichwohl keineswegs bereits dann immer schon als solche erkannt werden.

3. In der Pubertät ist es zwar normal, dass Abnabelungsprozesse auch turbulent und für die Eltern belastend verlaufen – das wäre im Regelfall kein Grund für eine therapeutische Vorstellung. Es kann aber auch sein, dann bereits Störungen bestanden habe, diese aber nicht erkannt wurden. Durch eine zunehmend autonomere Haltung des Jugendlichen treten sie dann deutlicher in Erscheinung.

Eine Besonderheit besteht bei bestimmten Formen von Traumafolgestörungen, die im Kindesalter praktisch keinerlei Symptome erzeugt haben, aber mit ersten sexuellen Erfahrungen zum Teil massiv in Erscheinung treten sowie Krankheiten wie der Schizophrenie, die vor der Pubertät außerordentlich selten auftritt.

In welchen Fällen wenden sich Jugendliche beziehungsweise deren Eltern an Sie?

Hinzke: Sie melden sich meist, wenn die Familien sich Sorgen wegen Problemen im schulischen oder sozialen Bereich machen. Der Weg zu uns ist mitunter lang, da die Eltern oft etliche Maßnahmen ergreifen, die letztlich bei psychiatrisch bedingten Störungen nicht greifen. Das heißt, sie versuchen es erstmal ohne Fachleute. Jugendliche wenden sich zunehmend selbst an uns mit dem Wunsch, für ihre Schwierigkeiten eine Erklärung und einen „unabhängigen Ansprechpartner“ außerhalb des familiären Umfeldes zu haben. Auch bei den Jugendlichen erleben wir zunehmend mehr Offenheit und weniger Scham, sich bei Schwierigkeiten, therapeutische Hilfe zu suchen.

Haben die Anfragen während der Pandemie zugenommen?

Hinzke: Die Anfragen haben während der Pandemie deutlich zugenommen. In der Pandemie kam es aus therapeutischer Sicht zu mehreren, letztlich unvermeidbaren Belastungen der Kinder und Jugendlichen, die eine deutliche Erhöhung der Inanspruchnahme einer Therapie bedingen. Mangelnde soziale Kontakte sowie schulische Defizite wurden in der Öffentlichkeit immer wieder thematisiert.

Ein Faktor, über den bislang meines Erachtens zu wenig berichtet wird: Bei den Kindern ist unbewusst Vertrauen erschüttert worden. Sie waren es gewohnt, dass sich Erwachsene in ihrem Umfeld in der Regel kompetent und sicher verhalten. Sie ließen sich von ihren trösten, da Erwachsene die Situation einschätzen können. Dies war während der Lockdowns oft nicht mehr der Fall. Lehrer kamen mit dem Distanzunterricht an ihre Grenzen, Eltern waren mit Homeoffice und Homeschooling überfordert. Unter Umständen hatten sie selbst Ängste vor Corona oder ihre berufliche Existenz. Die Souveränität war weg. Gewissermaßen haben die Kinder in der Pandemie den „Kaiser ohne Kleider“ gesehen, so dass es manchen Kindern und Jugendlichen schwerer fällt, sich bei Unsicherheiten an ihre Bezugspersonen zu wenden.

Wie läuft eine Therapie ab? Wie kann sie helfen?

Hinzke: Es gibt zahlreiche Begriffe in diesem Bereich. Das kann bei der Suche nach therapeutischer Hilfe verwirren. Was die meisten Menschen als „Therapie“ bezeichnen würden, ist die Richtlinien-Psychotherapie, die durch einen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten oder einen psychotherapeutisch tätigen Arzt / Ärztin angeboten wird. Dafür wird einen Antrag bei der Krankenkasse benötigt. Die Anzahl der Termine inhaltliche Ausrichtung werden meist vorgegeben. Der Vorteil dieser Therapieform ist unter anderem die hohe Terminfrequenz, das heißt meist wöchentliche Termine. Das ermöglicht eine intensive Arbeit, auch bei schwer ausgeprägten Störungen. Der Nachteil ist, dass ein Psychotherapeut, der so arbeitet, bei regulären Arbeitszeiten nur eine geringe Anzahl an Patienten versorgen kann und häufig sehr lange Wartezeiten auf einen Psychotherapie-Platz bestehen.

Bei etlichen unserer Patienten wäre diese Therapieform außerdem „zu viel des Guten“. Sie benötigen zwar psychiatrische Hilfe, sind aber mit einer geringeren Frequenz gut zu versorgen, zumal es oft am wirkungsvollsten sein kann, das Umfeld zu beraten und die Effekte der Beratung regelmäßig zu reflektieren. Dies ist die Domäne der sozialpsychiatrischen Versorgung, die in unserer Praxis hauptsächlich stattfindet. Es wird eine zum Teil sehr umfangreiche Diagnostik aus psychiatrischer, pädagogischer und somatischer Blickrichtung durchgeführt, an die sich Termine bei speziell fortgebildeten Fachtherapeuten anschließen, die je nach Sachlage in der Frequenz und der inhaltlichen Ausrichtung angepasst werden können. Zudem kann eine eventuell nötige medikamentöse Therapie intensiv begleitet werden. Außerdem haben wir eine hohe Nachfrage bei den Gruppenangeboten. Hier machen Kinder die Erfahrung, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine sind. Gut, dass die Treffen inzwischen wieder möglich sind.

Vielen Dank für das Gespräch.

Thema des Monats: Erkrankungen bei Jugendlichen

Am 12. August 2022 ist der internationale Tag der Jugend. Die Vereinten Nationen riefen diesen Tag ins Leben, um die Bedeutung der Lebensphase hervorzuheben und die politischen sowie gesellschaftlichen Belange von Jugendlichen in den Fokus zu rücken. Anlässlich des Aktionstages geht es bei uns dieses Mal um Erkrankungen, die Jugendliche häufig betreffen.

Selbsthilfegruppen können beim Umgang mit Erkrankungen unterstützen - auch Jugendliche und deren Eltern.
Ein Selbsthilfevereichnis von A wie ADHS und Adpositas bis Z wie Zöliakie und Zwangserkrankungen finden Sie bei der Kooperationsberatung für Selbsthilfegruppen, Ärzte und Psychotherapeuten (KOSA):